Der Dichter Johann Heinrich Voß im Jahre 1776 über den „Messias“

Für viele Menschen weltweit gehört der Besuch einer Aufführung von Georg Friedrich Händels Oratorium „Messiah“ zur Adventszeit wie der Adventskalender oder der Adventskranz.
Dieses Jahr müssen wir ohne dieses intensive, ergreifende und erhebende musikalische Erlebnis auf die Geburt Jesu Christi warten.

Müssen wir? Vielleicht können wir auf einer geistig-seelischen Ebene dieses Wunderwerk Händels erspüren, wenn wir den Brief des Dichters Johann Heinrich Voß an seine Braut Ernestine Boie lesen:

Wandsbek, 5. Januar 1776

… Vorigen Sonntag fuhr ich mit Claudius nach Hamburg, um Händels Messias anzuhören.
… Es sind lauter biblische Sprüche vom Messias, die Händel nach der Folge der Geschichte geordnet, und in Musik gesetzt hat. Klopstock hat dem englischen Text einen deutschen untergeschoben, doch mit Rücksicht auf Luthers Übersezung. Gleich das erste begleitete Rezitativ: Tröstet, tröstet mein Volk! war bis zu Thränen rührend, und die Windhem sang’s auch wie ein Engel. Aber nichts kam an die Chöre. Mir schlug das Herz fast wie in Deiner Umarmung, und ich hätte durch die Wolken fliegen mögen.

Besonders der Chor: Uns ist ein Kind zum Heil geboren! Hat einen Schwung, den ich der Musik nie zugetraut habe. Stell dir die größte Freude in vier Stimmen ausgedrückt vor, wo immer eine durch die andre entzündet zu werden scheint, und noch lebhafter und noch jauchzender die fröhliche Botschaft ausruft: Uns ist ein Kind geboren! Dann fugenweise: Welches Herschaft liegt auf seiner Schulter; und nun ein paar Stimmen ganz mäßig: Und sein Name wird genennt. Drauf alle Stimmen mit Donnerton: Wunderbar! Die Instrumente donnern nach. Noch lauter: Herrlichkeit! Die Musik steigt eben so. Aber nun, als ob Blitz und Schlag zugleich käme, mit dem höchsten Ausdruck, der auf Erden möglich ist: Allmächtiger Gott! daß man zusammenfährt, und hinsinken will vorder Gegenwart des Hocherhabenen. Der Donner der Stimmen und Instrumente daurt noch fort bei: der Ewigkeiten Vater! und dann verliert er sich in ein stilles fernes Gemurmel, wann der West über die Donnergegend dahersäuselt: Friedefürst! Hierauf wieder mit der Stimme des Entzückens von Anfang: Uns ist ein Kind zum Heil geboren! zum Heil! zum Heil! ein Kind ist uns geboren! uns zum Heil! und das viermal so durch.

Ich hätte 24 Stunden ohne Essen und Trinken dastehn, und mir bloß den Chor vorspielen lassen mögen. Auch der Chor: Macht die Thore der Ewigkeiten hoch, und die Frage von einem andern Chor: Wer ist der König der Ehren? Und das Zusammenjauchzen beider Chöre darauf, und die stille Feier bei der Stelle: Der Herr der Herlichkeit! Ferner das gewaltige Halleluja so wonnevoll und himmlisch, dass man an dem großen Sabbat im Himmel gegenwärtig zu sein glaubte. Und so göttlich war alles von Anfang bis zu Ende, einige sehr unbeträchtliche Fehlerchen des damaligen Modetons abgerechnet.
O Händel! Händel! wer ist unter den Sängern der Erde, der gleich dir, kühnen Flugs, Zaubereien tönt!

Quelle:
Deutsche Briefe aus einem Jahrtausend, Herausg. Mario Krammer und Hermann Kunisch, Reclam, Stuttgart, 1958.

Vielleicht

  • legen Sie jetzt sofort Ihre Lieblings-CD mit Händels „Messiah“ ein.
  • möchten Sie auch jetzt gleich auf YouTube das, wie Johann Heinrich Voß es genannt hat, „gewaltige Halleluja, so wonnevoll und himmlisch“ genießen
  • oder lieber den Choral „Tochter Zion“?

Klicken Sie einfach auf den entsprechenden Link.

Und wenn Sie noch ein bisschen mehr Zeit mit Georg Friedrich Händel und seinem „Messiah“ verbringen wollen, dann haben wir hier den „Wiederlese-Tipp“ von Susanne Hartwich-Düfel, Kantorin von St. Matthäus in Erlangen:

„Georg Friedrich Händels Auferstehung“ aus „Sternstunden der Menschheit“ von Stefan Zweig.

Mit den besten Wünschen für eine friedliche, gesunde Adventszeit, gesegnete Weihnachtstage und ein beglückendes neues Jahr

Cora Uitting